Obwohl diese [Woke]-Bewegung säkular ist,
scheint sie viele der psycho-spirituellen Bedürfnisse zu erfüllen,
die einst von der Religion bedient wurden.
Sky Gilbert
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Löschen Sie diesen Newsletter nach dem Lesen umgehend. Er könnte sonst als Beweis einer indirekten kulturellen Aneignung gegen Sie benutzt werden. Denn der Autor trägt Dreadlocks. Wegen dieser Haartracht wurde der Musikerin Ronja Maltzahn letzten März ein geplanter Auftritt an einer Veranstaltung von «Fridays For Future» in Hannover kurzfristig untersagt. Dreadlocks seien in den USA ein Widerstandssymbol der Bürgerrechtsbewegung und somit schwarzer Menschen geworden, begründet FFF die Absage:
«Wenn eine weisse Person also Dreadlocks trägt, handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weisse Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen.»
Maltzahn hätte auftreten dürfen, wenn sie ihre Dreadlocks abgeschnitten hätte. Das verweigerte sie.
Die Schweizer Band Lauwarm musste hingegen ihr Konzert in der Brasserie Lorraine in Bern sogar abbrechen. Nach der Pause durfte sie nicht mehr zurück auf die Bühne, weil sich Leute im Publikum unwohl fühlten – nicht nur wegen der «Dreads» einiger Musiker, sondern auch, weil eine weisse Band Reggae-Musik spielte. Die Gefühle einiger Zuschauer sind das eine. Noch bedenklicher ist, dass der Veranstalter nachgegeben hat.
Wie weit soll das noch gehen? Kultur lebt doch von Austausch und Inspiration. Um beim Reggae zu bleiben, müsste auch sämtliche davon beeinflusste «weisse» Musik verbannt werden. Weiter unten finden Sie eine solche Schwarze Liste. Und für mich wird es neben den Dreads noch brenzliger: Ich hatte vor vielen Jahren ein Konzert der Schweizer Band «Moonraisers» in Baden, AG, mitorganisiert, neben Reggae- und Dub-Partys.
Bob Marley, Mick Jagger und Peter Tosh. Quelle: GQ
Doch die Woke-Zensur wird es nicht dabei belassen, denn auch Rockmusik stammt massgeblich von «schwarzer» Musik ab, über Jazz, Blues und Gospel. Also auch mit all dem auf den Cancel-Culture-Scheiterhaufen.
Des Weiteren könnten auch andere Bereiche betroffen sein: Keine Tomaten mehr auf der Pizza, ja nicht mal eine Rösti darfs mehr sein. Hier im Tessin keine Polenta aus Mais mehr. Das Hemd gehört in den Müll: Der arabische Begriff dafür, in lateinischen Sprachen ähnlich beibehalten, verrät gleichzeitig seine Herkunft: Kamis. Und das ebenfalls aus Nahost stammende Christentum müsste ans Kreuz genagelt werden.
Die europäischen Sprachen müssten ohnehin gesäubert werden. Allein die arabischen Einflüsse sind vielfältig und reichen von Alkohol und Algebra über Orange und Spinat bis hin zu Tasse und Zenith. Manche dieser arabischen Wörter haben ihren Ursprung selbst woanders, zum Beispiel im Persischen oder im Sanskrit.
Arabische Zahlen – ursprünglich aus Indien – dürften wir selbstverständlich auch nicht mehr benutzen. Somit auch nicht die Null – sehr wahrscheinlich aus China stammend –, ohne die es keine Algebra und keine Infinitesimalrechnung gäbe. Folglich, liebe Woke-Tyrannen, verschrottet euer Smartphone und euern Computer.
Was die Dreadlocks anbelangt, ist deren Ursprung nicht auf Jamaika beschränkt. In verschiedenen Religionen haben lange verfilzte Haare einen spirituellen Hintergrund, wie Hubert von Brunn auf apolut.net anmerkt, so beispielsweise im Hinduismus oder im Sufismus. Bei den Azteken waren sie das Erkennungszeichen des Priesterstandes.
Selbst in der europäischen Kultur ist das Tragen von Dreadlocks überliefert. Wandbilder der Minoischen Kultur zeigen Darstellungen von Menschen mit Dreadlocks, ähnlich manche Fresken aus dem antiken Griechenland. Im 16. Und 17. Jahrhundert waren Dreadlocks in Europa populär, wie zum Beispiel am Hof von König Christian IV. von Dänemark und Norwegen. Allerdings war der Grund in diesem Fall eine Hautkrankheit, unter der der König litt, die seine Haare verfilzen liess. An seinem Hof wurden dann ebenfalls Dreadlocks getragen, um dem König zu gefallen.
Die heutigen Dreads sind jedoch meistens von der religiösen und sozialen Rastafari-Bewegung inspiriert, die in den 1930er Jahren in Jamaika aufkam. Der Glaube der «Rastas» beruht auf einer besonderen Interpretation der Bibel, laut der Jesus schwarz war. Diese Interpretation ist im Kebra Nagast festgehalten, einen äthiopischen Text aus dem 14. Jahrhundert. Erst in den 50er und 60er Jahren hat die Black-Power-Bewegung in den USA die Dreads übernommen.
Abgesehen von der grundsätzlich inakzetablen Tyrannei – wie wollen die Woken denn wissen, dass jemand, der Dreads trägt und Reggae hört, sich nicht «mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung» befasst hat? Er könnte damit ja auch seine Hochachtung bekunden. Die Woke-Bewegung berücksichtigt das gütigerweise und unterscheidet zwischen cultural appreciation und appropriation (Anerkennung und Aneignung). Um zu ermitteln, ob man sich eignet, wird ein Test empfohlen.
Ich habe mich mit der Geschichte und der Unterdrückung der Schwarzen und anderer Völker befasst – sicherlich mehr als die jungen FFF-Mitglieder – und auch darüber geschrieben. Und ich habe den Kebra Nagast gelesen, so wie ich mich aus Interesse mit anderen Religionen beschäftigt habe. Doch meine Entscheidung, Dreadlocks zu tragen, war letztendlich pragmatisch: Ich befand mich in der unangenehmen Situation, beide Arme und Hände im Gips zu haben. Somit konnte ich mich nicht mehr kämmen. Meine Freundin weilte gerade in Australien, und die anderen Mitbewohner und Freunde wollte ich damit nicht belästigen, denn sie mussten mir in dieser Situation so schon genügend helfen.
Irgendwann werden meine Dreads wohl die Schere kennenlernen, doch bestimmt nicht aus Erpressung.
Herzlich,
Konstantin Demeter
[email protected]
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Schwarze Liste von Reggae-inspirierter «weisser» Musik – zugleich Empfehlungen für sommerliche Klänge
Ganz oben auf der Schwarzen Liste der Woke-Zensur wäre vermutlich die Musik der legendären The Clash. Oder würde ihnen aufgrund ihrer politisch sehr linken Texte und der Verurteilung von Rassismus eine Absolution erteilt? In ihrem Song «White Man In Hammersmith Palais» plädieren sie zum Beispiel für die Einheit zwischen schwarzen und weissen Jugendlichen in Grossbritannien und kritisieren mit Sarkasmus die Politik der Rechten: Es sei so weit gekommen, dass sogar Adolf Hitler mit einer Limousine rechnen könne, wenn er heute einfliegen würde.
«Look Sharp!», das köstliche Debutalbum von Joe Jackson, müsste ebenfalls auf den Scheiterhaufen. The Police auch, obwohl ihre von Reggae beeinflussten Songs einigen schwarzen Reggae-Musiker so gefielen, dass sie gleich zu zwei Tributalben beitrugen – zusammen mit weissen Musikern (nicht alle Songs sind gelungen). Ziggy Marley und Sting führen «One World» sogar gemeinsam auf. Doch das zählt wohl nicht, denn Ziggys Grossvater, der Vater von Bob Marley, war Brite.
Stewart Copeland, der geniale Schlagzeuger von Police, hat gleich doppelt gesündigt: Er hat sich auch noch intensiv mit traditionellen afrikanischen Rhythmen befasst und zum Beispiel das Album «The Rhythmatist» aufgenommen. Dafür ist er durch Afrika gepilgert und hat die Aufnahmen mit seiner multiinstrumentalen Arbeit kombiniert. Das Album ist der offizielle Soundtrack des gleichnamigen Dokumentarfilms, an dessen Drehbuch Copeland mitgeschrieben hat.
«Watching The Detectives» von Elvis Costello könnte nur noch heimlich gehört werden. Aber doch nicht Paul Simons «Mother and Child Reunion», dass in Jamaikas Hauptstadt Kingston mit der Begleitband von Jimmy Cliff aufgenommen wurde? Doch, und sogar die Rolling Stones müssten verbannt werden, denn die weniger bekannte Perle «Black&Blue» enthält zum Beispiel das von Reggae inspirierte «Hey Negrita» und sogar ein Reggae-Cover, «Cherry Oh Baby».
Mick Jagger singt sogar zusammen mit Peter Tosh «(You Gotta Walk And) Don’t Look Back», aus Toshs «Bush Doctor». Keith Richards spielt in zwei Songs des Albums Gitarre. «Bush Doctor» wurde 1978 von Rolling Stones Records veröffentlicht und profitierte immens von der Beteiligung von Jagger und Richards sowie von der Öffentlichkeitswirkung, die mit der Veröffentlichung einherging. So soll es sein.
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