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Meinung

Replik zur Kirche in der Krise
Alte Zöpfe infrage stellen – und abschneiden

Menschen verfolgen die Messe, in der Stiftskirche, am Sonntag, 15. Maerz 2020, in St. Gallen. Die Besucherzahl der Gottesdienste ist mit dem bundesraetlichen Entscheid vom vergangenen Freitag zur Eindaemmung des Coronavirus auch auf 100 Personen beschraenkt. Dies dient der Einhaltung des sogenannten "social distancing". Die Gottesdienste werden teilweise im Internet uebertragen. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)
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Die Ursache des sich zuspitzenden kirchlichen Mitgliederschwunds ortet Andreas Zeller im Interview in einem gesellschaftlichen «Traditionsabbruch»: Das Zusammenspiel von Familie, Schule und Kirche funktioniere nicht mehr. Da würde interessieren: Welches sind die Auslöser dieses Traditionsabbruchs? Und hätten die Kirchen anders, vielleicht weitsichtiger darauf reagieren können? Zeit dafür hätten sie jedenfalls gehabt, geschieht dieser Abbruch doch schon seit Jahrzehnten, unter der kirchlichen Oberfläche noch einiges länger.

Meines Erachtens hat dieser Traditionsabbruch damit zu tun, dass sich das Weltverständnis eines grossen Teils der Mitglieder der westlichen Gesellschaften fundamental verändert hat. An einen allmächtigen Gott als jenseitiges, allwissendes und in das Weltgeschehen eingreifendes Wesen glauben immer mehr Menschen nicht mehr. Darunter auch viele (Noch-)Kirchenmitglieder. Dass Jesus als Gottes Sohn in die Welt gekommen und für die Sünden der Menschen gestorben ist, auch das können viele Menschen heute nicht mehr glauben. Ebenso, dass die Bibel Gottes Wort sein und als solches gelesen und verstanden werden soll.

Glaube ohne mittelalterliches Weltbild

Viel zu lange haben die Kirchen – explizit oder implizit – an der Unabänderlichkeit dieser historisch entstandenen Glaubenswahrheiten festgehalten und so das Weltverständnis eines grossen Teils der Menschen ignoriert. Mit anderen Worten: Die Kirchen haben es versäumt, zu sagen, dass diese (und andere) traditionellen Glaubenswahrheiten auch anders verstanden werden können. Sie haben es versäumt, dem traditionellen, theistischen Glaubensverständnis des Christentums ein nicht oder posttheistisches gegenüberzustellen. Sie haben es versäumt, den charismatischen, evangelikalen oder fundamentalistischen Varianten des Christentums eine vernunftgeprüfte zur Seite zu stellen.

Denn christlicher Glaube ist auch möglich ohne die mit einem mittelalterlichen Weltbild verbundenen Glaubensvorstellungen. So rückt das Christentum gar näher zu den Menschen, wenn es auf Überzeugung setzt und ohne den Anspruch göttlicher Offenbarung auftritt. Die Bibel wirkt letztlich glaubwürdiger, wenn sie als Buch menschlicher Erfahrungen gelesen werden kann und nicht als (unfehlbares) Gotteswort geglaubt werden muss. Und Gott kann für die Lebenspraxis mancher Menschen neue Bedeutung gewinnen, wenn er nicht als überirdisches Wesen oder jenseitige Macht verstanden wird, sondern ganz einfach als Liebe. Liebe, die durch und an Menschen geschieht.

Glaubenswahrheiten infrage stellen

Bleibt die Kirche bei ihrer weitgehend traditionellen Auslegung der christlichen Überlieferung, wird sie weiterhin, innerlich und äusserlich, Menschen verlieren. Menschen, die sich von ihr verabschieden, weil sie die christliche Botschaft, die sie zu hören bekommen, nicht mehr mit ihrem Weltverständnis verbinden können.

Es reicht also nicht, wenn die Kirchen einfach ihren Einsatz für eine stärkere Wahrnehmung der christlichen Botschaft erhöhen. Sie müssen zuerst erkennen, dass eine wichtige Ursache der mangelnden Wahrnehmung dieser Botschaft in deren traditioneller theologischer Ausrichtung liegt. Das gilt sowohl für den kirchlichen Unterricht wie auch für Predigt und Gottesdienst. Was nottut, ist eine theologische Debatte. Eine Debatte, die es wagt, auch bisher nicht hinterfragte Glaubenswahrheiten infrage zu stellen. Gerade der reformierten Kirche stände es gut an, nicht einfach die traditionellen Glaubenssätze in heutige Sprache zu übersetzen. Sondern dem Beispiel der Reformatoren zu folgen, alte Zöpfe infrage zu stellen und wenn nötig abzuschneiden.

Matthias Barth war reformierter Pfarrer in Kriens, Nidau und Schwarzenburg. Seit 2019 ist er pensioniert und lebt in Port bei Biel.

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